“Warum ist der Himmel blau?“, fragt die vierjährige Tochter ihren Vater.
„Wo komm ich her? Wo kommst du her?“, will sie noch etwas über das Leben wissen.
„Das kann ich dir jetzt nicht erklären“, entgegnet der Vater genervt und schaut wieder in seine Unterlagen, die er bis heute Abend noch durchsehen muss. „Ich habe zu tun. Tut mir leid meine Kleine. Ich erklär es dir irgendwann einmal.“
Die Tochter geht, aber hört nicht auf sich zu wundern. Über den Himmel, an dem die Wolken wie Zuckerwatte dahintreiben und über das Leben, in dem ihr Vater so selten Zeit für sie hat und das ihr vor drei Wochen einen neuen Bruder geschenkt hat, von dem alle sagen, er sei aus ihrer Mama gekommen. Für sie ist alles jeden Tag neu und besonders. Sie hat sich noch nicht an die Dinge gewöhnt, die die Erwachsenen scheinbar als gegeben hinnehmen. Ihr fallen Dinge auf und ein, die sie sich noch nicht erklären kann, sie fragt nach und denkt nach und wundert sich darüber.
„Warum stolpern Elefanten beim Gehen nicht über ihren Rüssel?“
„Warum sagen die Erwachsenen immer,dass es ihnen gut geht, wenn sie jemand fragt, obwohl sie sich kurz vorher noch angeschrien haben?“
„Warum müssen wir alle mal sterben?“
Ich kann das kleine Mädchen verstehen. Zu oft wundern wir uns nicht über die Dinge, die uns als Kinder so faszinierten. Damals war alles neu für uns, wir fragten, wenn wir etwas wissen wollten und die Antwort „Das ist halt so“, haben wir nicht hingenommen. Und dann haben wir diese Dinge zelebriert und das eben, weil wir sie so bewusst wahrnahmen und sie so mehr würdigten. Egal, ob das Essen, der Stock, der zum echten Schwert wird, oder die alte Puppe vom Speicher. Und heute? Wir stürzen uns viel mehr in unseren Alltag, in dem wir einem Sonnenstrahl, der uns an der Nase kitzelt, viel zu wenig Beachtung schenken. Aber dabei bilden wir uns ein, wir würden die Welt kennen. Freilich, wir kennen Weltkarten und haben bestimmt schon den einen oder anderen Ort besucht, aber wir lassen nicht mehr zu, dass unsere Erkenntnisse, die wir glauben zu haben, revidiert werden, um Platz für Neues zu schaffen: den Sinn für die Schönheit und für die Besonderheiten der Welt. Aber für diesen Sinn muss man innehalten, sich und den Stress um sich herum für einen Moment lang stillstehen lassen. Und sich dann bewusst machen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass die Welt so ist, wie man sie erlebt. Man muss sich darüber wundern, denn wundern bedeutet bemerken. Bemerken, wie warm der Sommerwind um die Ohren weht, bemerken, dass die Stadt sich in den letzten Jahren verändert hat. Denn das tun wir in dem normalen Gewusel des Tages oft nicht mehr, in dem wir meistens viel zu sehr mit uns selbst beschäftigt sind.
Aber Wundern ist der erste Schritt zur Wertschätzung. Denn wenn man erkannt hat, dass es nicht selbstverständlich ist, dass der Nudelauflauf vor dir steht, wenn man sich fragt, wo er herkommt und sich darüber freut, dann wird man ihn auch mit mehr Genuss und Achtsamkeit entgegennehmen, als wenn er nur nebenbei oder in Hast zu sich genommen wird. Gleichzeitig gibt einem das Innehalten, sich Bewusstmachen und Wertschätzen die Begeisterung für die kleinen Dinge im Leben zurück. Wie eben ein Mittagessen oder eine kurze Unterhaltung beim Bäcker mit einem Menschen, der dir eigentlich fremd ist.
„Es ist nichts so klein und wenig, woran man sich nicht begeistern könnte“, schrieb Friedrich Hölderlin 1799 und er hat recht.
Er sagt damit, dass es nichts gibt, was zu klein für deine Aufmerksamkeit oder deine Freude ist. Über Wörter wie MYSTERIUM könnte man ganze Bücher schreiben, weil sie so klingen und weil so viel in ihnen steckt. Kleine Wörter oder Gesten werden wichtig, weil man ihnen durch das genaue Betrachten Bedeutung gibt. Es ist so einfach sich zu freuen, wenn man nur richtig hinschaut, weil in so gut wie jedem Ding etwas Gutes oder Bemerkenswertes steckt, wenn man sich nur die Zeit und die Achtsamkeit nimmt, es richtig anzuschauen. Man muss die kleinen Dinge also groß werden lassen durch seine Aufmerksamkeit. Aber wir müssen erst wieder lernen in unserem kuriosen Alltag, zwischen Meeting, Seminar oder Unterrichtsstunde und der Mittagspause, in der wir schnell den Salat hinunterschlingen und gleich wieder loshetzen, auf die Stopp-Taste zu drücken und uns zu wundern. Über den Staub, der bei jedem Schritt aufwirbelt, über den blauen Himmel, der sich in der Fensterscheibe spiegelt, einfach darüber, dass es diese Dinge gibt und dass sie so sind, wie sie sind und dass sie, wenn man mal darüber nachdenkt, auch schön so sind. Vielleicht müssen wir dann lächeln und der Tag ist schöner geworden durch die Begeisterung für eine kleine, scheinbar unbedeutende Sache, von der es so viele auf der Welt gibt, vielleicht sind sie auch die Bestandteile, aus denen sie sich zusammensetzt.
Oder anders. Kurt Tucholskyhat mal gesagt:
„Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt – sieh sie dir an!“
Das würde ich auch dem kleinen Mädchen sagen. Sie soll sich in der Welt umschauen und nie aufhören zu fragen, auch wenn sie selbst schon Kinder hat und ihnen dann die Welt erklären soll.